Fair berichten… auch über die AfD: Interview mit Caterina Lobenstein

Dass wirkliche Objektivität im Journalismus unmöglich ist, sollte uns allen klar sein. Wie wir formulieren, welche Quellen wir in welchem Umfang zu Wort kommen lassen, welche Themen wir relevant genug finden, um sie in der Redaktion durchzusetzen – all das ist subjektiv. Okay, finden wir uns damit ab. Was wir trotzdem tun können, ist fair zu schreiben. Besonders ist mir bei der Berichterstattung über die AfD und ihre Wähler*innen aufgefallen, dass es plötzlich in Ordnung zu sein schien, persönliche Haltungen in Nachrichtenbeiträge einfließen zu lassen, ohne das als Kommentar zu kennzeichnen; als sei die Ablehnung bestimmter politischer Gruppierungen ohnehin gesellschaftlicher Konsens oder Fakt. Darum fand ich Caterina Lobensteins Reportage „AfD in Bitterfeld: Hier herrscht Klassenkampf“ so beeindruckend. Zurückhaltend und wertfrei versucht sie sich und ihrem Publikum die Frage zu beantworten: Warum wählen so viele Menschen diese Partei? Und die Antwort darauf lautet ausnahmsweise nicht: Weil das so ungebildete, ostdeutsche Proleten sind. Caterina Lobenstein sagt: „Natürlich habe ich eine persönliche Haltung, aber gerade in der Geschichte über die AfD ging es ja wirklich ums Verstehenwollen.“ Verstehenwollen, Verständnis schaffen, das mag weniger mitreißen als ein gemeinsames Herziehen über einen Trump, eine AfD, einen Berliner Flughafenbau. Ich halte es jedoch für zielführender.

Caterina Lobenstein (34) ist Redakteurin im Ressort Wirtschaft der ZEIT.

In deiner Reportage über die AfD in Bitterfeld schreibst Du: „Nirgendwo erhielt die AfD bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt so viele Stimmen wie in Bitterfeld-Wolfen. In den Tagen nach der Wahl kamen Reporter in die Stadt, aus Hamburg und Berlin, aus Großbritannien und den USA. Sie wollten wissen, warum so viele Leute hier der AfD ihre Stimme gegeben hatten. Sie filmten auf dem Marktplatz, sie zeigten Menschen, die graue Jogginghosen trugen und fettige Bratwurst aßen, die Flüchtlinge ‚Neger‘ nannten und Politiker ‚Verbrecher‘”. Steckt da eine Kritik an den Medien drin?

Ich hab die Berichterstattung oft als klischeebehaftet empfunden. Manchmal musste ich daran denken, wie ich in den 90er Jahren mit meinen Eltern vor dem Fernseher saß und mein Vater sich darüber aufgeregt hat, dass die Reporter immer genau die Ossis vor die Kamera geholt haben, die die schmuddeligste Jogginghose trugen und das fieseste Sächsisch sprachen. Ich will gar nicht bestreiten, dass es all das in Bitterfeld gibt, was da in den Videos und Fernsehsendungen gezeigt wurde. Aber ich hatte das Gefühl, es erklärt nicht besonders viel. Es erklärt zum Beispiel nicht, warum in einer Arbeiterstadt wie Bitterfeld kaum jemand mehr die klassischen Arbeiterparteien wählt, die Linke, die SPD. Meine Familie wohnt nicht weit entfernt von Bitterfeld in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Da war die Zustimmung zur AfD von Anfang an ähnlich groß. Wir haben uns immer wieder gefragt: Warum ist das eigentlich so? Warum fühlen sich diese Menschen von anderen Parteien nicht mehr vertreten? Und hat das wirklich nur was mit den Flüchtlingen zu tun? Ich habe dazu relativ wenig gelesen, wo ich danach das Gefühl hatte: Jetzt verstehe ich das.

Es gibt ja sogar den Vorwurf, dass die Medien selber zum Aufstieg der AfD beigetragen haben.

Ich glaube nicht, dass die Medien daran Schuld sind. Die AfD ist eine Partei, und wenn Leute die wählen, dann ist das erstmal ein Fakt und Journalisten berichten darüber. Es gibt natürlich dieses große Misstrauen unter AfD-Wählern und AfD-Politikern gegenüber Journalisten, das hab ich selbst erlebt, bei Parteitagen oder im Gespräch mit Wählern. Ich glaube aber, wir sind nicht der Auslöser, sondern vielleicht eher eine Art Verstärker dieser Elitenskepsis oder des Elitenhasses, der viele Menschen zur AfD getrieben hat. Wir sind Teil jener vermeintlichen Elite, der viele AfD-Wähler misstrauen.

Dein Text hebt sich ja ein bisschen ab von der typischen Berichterstattung. Er schafft schon fast Sympathie oder zumindest Verständnis. Wie haben die Leser*innen und Kolleg*innen darauf reagiert?

Ich finde nicht, dass ich in dem Text zu nett war. Ich habe versucht unvoreingenommen zu sein und war eher daran interessiert, die Protagonistin des Textes zu verstehen, als sie damit zu konfrontieren, dass ich nicht ihrer Meinung bin. Das war manchmal nicht ganz einfach, weil sie zum Teil sehr heftige Worte gewählt hat. Ich hab ihr vor allem zugehört und irgendwann fast gar nichts mehr gesagt. Sie hatte eine Menge zu erzählen. Wir haben bestimmt vier Stunden zusammen gesessen, viel Kaffee getrunken und viele Zigaretten geraucht.

Insgesamt habe ich erstaunlich viel positives Feedback für den Text bekommen. Zu der Zeit habe ich immer mal wieder über die AfD geschrieben, vor allem aber hab ich mich mit dem Thema Flucht und Migration beschäftigt. Ich bekomme da in der Regel sehr kritische Leserbriefe und auch heftige, hasserfüllte Reaktionen. Meistens von rechts, manchmal auch von links. Über diesen Artikel haben aber sowohl AfD-Wähler als auch AfD-Kritiker gesagt, dass sie ihn fair und aufschlussreich fanden.

Wie kann man als Journalistin der sozialen Spaltung entgegenwirken?

Ich glaube, indem man versucht, sich von Vorurteilen zu lösen und von allzu schnell gefassten Erklärungen. Es hilft gut zuzuhören und offene Fragen zu stellen; nicht Verurteilungen in Fragen zu verkleiden und sie den Interviewpartnern aufzutischen. Am besten hört man so vielen Seiten wie möglich zu, aber ohne, dass am Ende daraus ein dramaturgisches Wischi-Waschi wird, so ein Einerseits-Andererseits-Text, in dem einfach ein Argument ans nächste gereiht wird. Nach dem Zuhören muss man einordnen, man muss prüfen, wie stichhaltig die Argumente sind. Ob die Fakten stimmen, auf die sie sich stützen und welche Grundannahmen eigentlich dahinter stecken.

Waren die Protagonist*innen in Bitterfeld nicht sehr misstrauisch, dass jemand von der ZEIT über sie berichten möchte?

Ja. Meine Protagonistin, eine Arbeiterin, die 20 Jahre lang Nichtwählerin war und nun in der AfD ihre politische Heimat gefunden hat – Diana Riemann habe ich sie in dem Text genannt – die war anfangs  sehr misstrauisch. Sie hat die ZEIT nie gelesen, aber sie hatte von der ZEIT gehört, als Teil des vermeintlichen medialen Lügenkonglomerats. Ich fand es bei ihr auch deshalb nicht ganz einfach, weil sie anonym bleiben wollte. Ich bin ja in ihren Augen eine Vertreterin der Lügenpresse. Das war eine Herausforderung, so viel Vertrauen zu schaffen, dass sie mir glaubt, dass ich mit ihrer Identität vorsichtig umgehe. Ich schicke nie fertige Texte an Protagonisten, aber ich habe ihr angeboten, dass wir später am Telefon all jene Details und Zitate abklopfen, die sie erkennbar machen könnten. Für den Text ist sowas oft bitter, der lebt ja von den Details. Ich habe Diana Riemann zum Beispiel gefragt, was für sie Luxus bedeutet. Sie hat dann etwas gesagt, was aus schreiberischer Sicht schön in den Text gepasst hätte, ein Detail, das einem als Leser plastisch vor Augen führt, wie wenig Geld diese Frau im Alltag zur Verfügung hat. Etwas, was sie gerne konsumiert und sich einmal im Monat leistet. Aber da hat sie gesagt: Wenn Sie das aufschreiben, dann weiß sofort jeder in meinem Betrieb, dass ich das bin, und dann verliere ich meinen Job.

Wie reagiert man als Journalistin auf so eine Aussage wie von Diana Riemann, die über Flüchtlinge spricht und sagt: “Dem Viehzeug steckt das Sozialamt Zucker in den Arsch.”?

Der Satz kam sehr unvermittelt, während wir Kuchen aßen, ich hab im ersten Moment gar nicht verstanden, was sie meint. Also hab ich nachgefragt, und da hat sie mich angeschaut und gesagt: Ja dem Viehzeug, den Ausländern, wem sonst? Ich hab sie gefragt, ob das keine normalen Menschen sind. Sie sagte: Nein. Ich habe bei dem Text lange überlegt, inwieweit ich die Sprache meiner Protagonisten übernehmen, wie viel Raum ich den Zitaten geben soll. Die Worte von Frau Riemann, aber auch die Kommentare vom Facebook-Profil eines AfD-Politikers aus Bitterfeld, die in dem Text vorkommen, sind in meinen Augen menschenverachtend. Wenn man für ein Medium mit mehreren Hunderttausend Lesern schreibt, bereitet man so einer Sprache eine Bühne. Andererseits finden Menschen, die so reden, ihre Bühne auch bei Facebook oder Twitter, in der Kneipe oder im Sportverein. Ich fand es wichtig, das zu zitieren, weil diese Art von Sprache Teil des Problems ist. Viele haben ja das Gefühl, seit es die AfD gibt, dürften sie endlich mal sagen, wie es wirklich ist. Als würden sie nicht hetzen, sondern einfach unverblümt sprechen. Als ich die Zitate von Frau Riemann abgetippt hatte, dachte ich: Uff, das lässt sie mir niemals durchgehen. Ich hab ihr dann die Zitate zum Autorisieren geschickt . Sie wollte nichts verändern. Sie hat nur gesagt: Gut, dass es mal in der Zeitung steht. Ich hab dann nochmal nachgehakt, ob sie sich sicher ist. Sie meinte nur: Jaja, warum denn nicht?

Über das Wohnzimmer von Diana Riemann schreibst Du: „Auf der Sofalehne sitzt ein Harlekin, in der Schrankwand ein Engel aus Porzellan.“ Ich habe diese Kitsch-Gegenstände direkt mit einem bestimmten sozialen Milieu assoziiert. Wie schafft man es, solche Assoziationen herzustellen, ohne herabwürdigend zu werden?

Ich finde das in der Tat schwierig. Welche Details wählt man aus, um jemanden zu beschreiben, welche lässt man weg? Welche verleihen einer Figur Farbe, welche führen sie vor? Wenn man Pech hat, tappt man mitten rein ins Klischee, wenn man Glück hat, schrammt man knapp daran vorbei. Ich fand es in diesem Text wichtig, dass man als Leser zumindest ein ungefähres Bild der Protagonistin bekommt. Ich konnte sie nicht äußerlich beschreiben, weil sie ja anonym bleiben musste. Ich wollte aber, dass einem beim Lesen klar wird, in was für einem Milieu man sich befindet. Sie hatte keine minimalistische dänische Vase in ihrem Wohnzimmer stehen, wie ein Hipster in Berlin, sondern eben einen Porzellanengel. Sie hatte keinen Parkettboden, sondern einfaches Laminat. Das allein sagt natürlich erstmal gar nichts. Aber ich glaube, dass man sich, auch auf wenig Platz, einem Protagonisten annähern kann, wenn man Details zusammenfügt. Äußerlichkeiten, Vorlieben, wie jemand spricht, wie jemand sich kleidet, was und wie jemand isst. Das alles erklärt noch nichts, aber es schafft Nähe und Atmosphäre.

Wie bereitest du dich in der Regel auf deine Recherchen vor?

Ich versuche so viel wie möglich zu lesen und mache mir ein Bild davon, was schon berichtet wurde. Vor dieser Geschichte habe ich mich viel auf den Facebook-Seiten der lokalen AfD-Politiker herumgetrieben und versucht zu verstehen, worum es da geht. Ich hab relativ schnell gemerkt, dass die nicht nur über Flüchtlinge reden, was meine erste Vermutung gewesen war, sondern auch über schlechte Löhne, über Schulen, die schließen müssen, über alte Leute, die von ihrer Rente nicht leben können, über Konzerne, die keine Steuern zahlen. Außerdem habe ich Politiker vor Ort angerufen, die Bürgermeisterin, ein paar Stadträte, um erstmal vom Telefon aus die Lage grob einzuschätzen. Dann habe ich gemerkt, dass der Landtags-Direktkandidat Daniel Roi, ein junger AfD-Politiker, ein guter Protagonist ist. Als ich ihn gefragt habe, warum die Arbeiter der Stadt ausgerechnet ihn wählen und nicht die Konkurrenz von der SPD, konnte er konkrete Geschichten erzählen und mir Orte zeigen, an denen man Antworten auf diese Frage findet. Über ihn kam am Ende auch der Kontakt zu Frau Riemann.

Wie lange hat die Recherche gedauert?

Mit Frau Riemann habe ich einen langen Nachmittag verbracht und dann bin ich noch einen Tag mit Daniel Roi durch die Stadt gefahren. Ich habe ihn gebeten, mit mir an die Orte zu fahren, an denen man die Probleme sieht, die die Wähler bewegen. Wir sind zu einem See gefahren, der privatisiert wurde. Zu alten Fabriken, zum Solarpark, auf den die Bitterfelder so viel Hoffnung gesetzt hatten und der heute fast verlassen ist.

Wie geht es nach der Recherche weiter?

Ich gehe meine Blöcke durch, höre die Bänder ab und tippe sie oft auch komplett ab. Das ist super ineffizient, das darf mein Chef eigentlich niemals hören. Ich hab meist viel zu viel Material und ein riesiges Word-Dokument, das mich jedes Mal killt. Das drucke ich mir aus und gehe mit dem Textmarker drüber. Erst dann fange ich an, den richtigen Text zusammenzubauen. Ich schätze, dass am Ende um die 90 Prozent der Informationen, Beschreibungen, Zitate, die ich gesammelt habe, wieder rausfallen. Ich bewundere Kollegen, die einfach den ersten Satz hinschreiben und dann den zweiten und dann den dritten, und nach einem Tag ist die Reportage fertig geschrieben.

Du gehörst  mit 34 Jahren zu einer jüngeren Generation von Journalist*innen. Was für Schwierigkeiten stehen Nachwuchsjournalist*innen bevor?

Die größte Schwierigkeit ist, dass in vielen Redaktionen nicht mehr viel Geld ausgegeben wird und dass es schwierig ist, an eine Stelle zu kommen, die einem den größten journalistischen Luxus gewährt: Zeit. Es gibt viele Bewerber für wenige Stellen und wenig Geld für Freie. Als Redakteurin merke ich ja, wie wenig da ist, um freie Autoren zu bezahlen. Das ist nicht schön, Honorare anbieten zu müssen, bei denen ich aus eigener Erfahrung weiß, dass sie nicht reichen, um die Miete zu zahlen. Nicht, wenn man sich für die Texte Zeit nimmt und sich Mühe gibt. Und weil weniger Geld da ist, herrscht auch weniger Verständnis dafür, dass Recherchen auch mal in die Hose gehen. Die Voraussetzung für guten Journalismus ist, dass man auch mal sagen kann: Wir drucken das nicht. Zum Beispiel, wenn Interviewpartner im Nachhinein alles Wichtige wegautorisieren. Oder wenn man einer These nachspürt, die der Wirklichkeit nicht standhält.

Außerdem finde ich es zunehmend schwerer, den Überblick zu behalten: Welche Infos, die in meine Timeline gespült werden, kommen aus welcher Ecke? Wer verfolgt damit welche Interessen? Ist das Video, das Zitat, das schon zehntausende Male geteilt wurde, überhaupt echt? Aber ich will gar nicht so einen Blues verbreiten. Denn gerade weil vieles so unübersichtlich ist, werden wir weiter Journalisten brauchen – mehr denn je.

Was ist das Beste und das Schlechteste daran, als Festangestellte zu arbeiten?

Das Beste sind die fantastischen Kollegen, mit denen ich auf dem Flur sitze und mit denen ich zusammenarbeiten darf. Und grundsätzlich ist es bei Recherchen hilfreich, einen Verlag im Rücken zu haben, der nicht nur einen großen Namen hat und Raum gibt für tiefe Recherchen, sondern der sich auch gute Anwälte leistet. Das macht einen im Zweifel mutiger. Das Schlechteste? Höchstens, dass ich nicht mehr im Schlaf-T-Shirt und auf dem Sofa lümmelnd meine Texte schreibe. Gerade bin ich sehr gerne festangestellt.

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